Übersehene Sehenswürdigkeiten - Reto Wettach
Spiegel Online, 27.10.04
Michaela Vieser und Reto Wettach sind sechs Monate kreuz und quer durch ihre Heimat gefahren und haben dabei eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Deutschland ist exotisch, skurril und inspirierend. Ihre Reise an wenig beachtete deutsche Orte haben sie in ihrem Buch "Übersehene Sehenswürdigkeiten" dokumentiert.
Deutschland ist ein fremdes, merkwürdiges Land. In Wäldern und auf Feldern stehen Holztürme, auf denen Jäger sitzen, in Vorgärten erwarten kleine Männer mit Rauschebärten und roten Zipfelmützen Besucher, und in Höhlen und Hinterzimmern sind atomare Bierkeller, Wachsfiguren oder von Pfeilen durchstoßene Störche zu bestaunen.
Eine Reise durch Deutschland ist ein Abenteuer. Das dachten sich jedenfalls die Japanologin und Journalistin Michaela Vieser und der Design-Professor Reto Wettach. Sechs Monate lang sind sie mit einem VW-Bus durchs Land gefahren, auf der Suche nach "übersehenen Sehenswürdigkeiten", nach Orten, die in keinem Reiseführer erwähnt sind. Fernab der Autobahnen fuhren sie über Bundesstraßen in kleine Dörfer, aßen in Gasthöfen und Wirtsstuben, besuchten lokale Architekten und Hobbyforscher und ließen sich Heimatgeschichten erzählen, Märchen und Mythen, die sich um die Gegend ranken.
Das Projekt nannten sie "Drifting Friends". Sie ließen sich treiben, von einer Geschichte zur nächsten, von einem Ort zum anderen. Über 150 Orte - Privatmuseen, Denkmäler, Tempel oder Urwälder - haben sie besucht, die 67 besten beschrieben und fotografiert und in einem eigens gestalteten, deutsch-englischsprachigen Buch mit dem Titel "Übersehene Sehenswürdigkeiten - Deutsche Orte" zusammengefasst.
"Übersehene Sehenswürdigkeiten": Deutschland als romantische, magische und etwas seltsame Region
Das so genannte Roadbook spiegelt nicht ihre Reiseroute wider, sondern ist thematisch geordnet. Die Kapitel sind mit "Einmannwelten", "Wunderland Religion" oder "Berühmte Tiere" überschrieben. Hinter den zum Teil kryptischen Titeln verstecken sich sagenhafte Geschichten, wie die vom selbst geschnitzten Junker-Haus in Lemgo, von der Einsiedelei in Münchens Olympiapark - oder vom Mecklenburger Pfeilstorch: Im Jahre 1822 wurde auf einem Feld bei Klütz ein Storch tot aufgefunden. In seinem Hals steckte ein afrikanischer Pfeil, der aber keine lebenswichtigen Organe durchbohrt hatte. Der Storch war erst nach seiner Ankunft in Mecklenburg verhungert, weil er mit dem Pfeil im Hals keine Frösche fangen konnte. Der Pfeilstorch war der erste "Experimentalbeweis", dass Störche im Winter nach Afrika fliegen, er wurde ausgestopft und in der Universität Rostock ausgestellt, wo er noch heute zu sehen ist.
Mehrere Jahre haben Vieser und Wettach beruflich in Japan gelebt. Die Distanz hat ihren Blick für das eigene Herkunftsland geschärft. Sie fassten den Entschluss, zurückzukehren und das, was ihnen vertraut erschien, neu zu erkunden. "Uns ist aufgefallen, dass wir Deutschland gar nicht richtig kennen und wenig über die Menschen wissen", sagt Reto Wettach, "dabei sind das Land und seine Bewohner exotisch, skurril und unheimlich inspirierend."
Vor allem aber scheint Deutschland in ihrem "Roadbook" ein Land der kreativen Lügner zu sein. Mangels besonders ausgefallener touristischer Attraktionen wird gern mal etwas erfunden, um Neugierige und Schaulustige anzulocken. Und so haben sich Michaela Vieser und Reto Wettach auch im Lügenmuseum in Kyritz viele Raritäten angesehen und angehört, das abgeschnittene Ohr von Vincent van Gogh zum Beispiel, Tonbandmitschnitte der untergehenden Titanic und das Geburtszimmer von Willy Brandt.
In Bodenwerder an der Weser haben sie das Grottenhäuschen des Lügenbarons Hieronymus von Münchhausen besichtigt und im fränkischen Diebach-Oestheim einen unscheinbaren Tümpel, der von den Einwohnern des direkten Zugangs nach Amerika wegen als "Bodenloses Loch" bezeichnet wird. Vor ihrer Reise hätten sie wohl auch nicht für möglich gehalten, dass der Mittelpunkt der Erde in einer sächsischen Kleinstadt namens Pausa liegt. Aber dann wurden sie eines Besseren belehrt. Im Rathaus von Pausa ragt nämlich ein Stück Erdachse aus dem Kellerboden, und das glänzende, sich ständig drehende Metallrohr muss regelmäßig von Mitgliedern der Erdachsenscharnierschmiernippelkommission mit Likör eingerieben werden - damit die Welt nicht still steht.
In "Übersehene Sehenswürdigkeiten" werden auch viele echte Rätsel des Alltags geklärt, wie die Geschichte der 14 dorischen Säulen, die in Stuttgart neben einer Müllverbrennungsanlage stehen. Ursprünglich sollten sie die Ost-West-Achse im neuen nationalsozialistischen Berlin namens "Germania" schmücken, aber dann kam der Krieg, und so blieben die Säulen beim Hersteller in Schwaben. Manche Orte, wie der Obersalzberg in Berchtesgarden oder das Raketenversuchsgelände in Peenemünde, sind dagegen bekannt und keineswegs übersehene Sehenswürdigkeiten. Andere Orte, wie das Gruft von Franz Josef Strauß in der Klosterkirche Rott am Inn oder das Grab der Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe auf dem Dornhaldenfriedhof in Stuttgart, sind beliebig ausgewählt und wenig reizvoll.
Trotzdem ist "Übersehene Sehenswürdigkeiten" ein spannender und origineller Reiseführer, der Deutschland in einem anderen Licht zeigt: als romantische, magische und etwas seltsame Region, durch die - vor allem nachts - untote Ritter, achtbeinige Hasen und doppelköpfige Kälber geistern. Michaela Viesers und Reto Wettachs Spuren zu folgen lohnt sich schon deshalb, weil die Geschichten, die ihnen die Menschen vor Ort erzählt haben, oft interessanter sind als die Orte selbst - gerade dann, wenn sie nicht stimmen.
[ Quelle: SpiegelOnline ] - [ Das Buch bestellen (Kauf unterstützt Wettach.Org) ] - [ Zur Webseite Drifting Friends (english) ]
Michaela Vieser und Reto Wettach sind sechs Monate kreuz und quer durch ihre Heimat gefahren und haben dabei eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Deutschland ist exotisch, skurril und inspirierend. Ihre Reise an wenig beachtete deutsche Orte haben sie in ihrem Buch "Übersehene Sehenswürdigkeiten" dokumentiert.
Deutschland ist ein fremdes, merkwürdiges Land. In Wäldern und auf Feldern stehen Holztürme, auf denen Jäger sitzen, in Vorgärten erwarten kleine Männer mit Rauschebärten und roten Zipfelmützen Besucher, und in Höhlen und Hinterzimmern sind atomare Bierkeller, Wachsfiguren oder von Pfeilen durchstoßene Störche zu bestaunen.
Eine Reise durch Deutschland ist ein Abenteuer. Das dachten sich jedenfalls die Japanologin und Journalistin Michaela Vieser und der Design-Professor Reto Wettach. Sechs Monate lang sind sie mit einem VW-Bus durchs Land gefahren, auf der Suche nach "übersehenen Sehenswürdigkeiten", nach Orten, die in keinem Reiseführer erwähnt sind. Fernab der Autobahnen fuhren sie über Bundesstraßen in kleine Dörfer, aßen in Gasthöfen und Wirtsstuben, besuchten lokale Architekten und Hobbyforscher und ließen sich Heimatgeschichten erzählen, Märchen und Mythen, die sich um die Gegend ranken.
Das Projekt nannten sie "Drifting Friends". Sie ließen sich treiben, von einer Geschichte zur nächsten, von einem Ort zum anderen. Über 150 Orte - Privatmuseen, Denkmäler, Tempel oder Urwälder - haben sie besucht, die 67 besten beschrieben und fotografiert und in einem eigens gestalteten, deutsch-englischsprachigen Buch mit dem Titel "Übersehene Sehenswürdigkeiten - Deutsche Orte" zusammengefasst.
"Übersehene Sehenswürdigkeiten": Deutschland als romantische, magische und etwas seltsame Region
Das so genannte Roadbook spiegelt nicht ihre Reiseroute wider, sondern ist thematisch geordnet. Die Kapitel sind mit "Einmannwelten", "Wunderland Religion" oder "Berühmte Tiere" überschrieben. Hinter den zum Teil kryptischen Titeln verstecken sich sagenhafte Geschichten, wie die vom selbst geschnitzten Junker-Haus in Lemgo, von der Einsiedelei in Münchens Olympiapark - oder vom Mecklenburger Pfeilstorch: Im Jahre 1822 wurde auf einem Feld bei Klütz ein Storch tot aufgefunden. In seinem Hals steckte ein afrikanischer Pfeil, der aber keine lebenswichtigen Organe durchbohrt hatte. Der Storch war erst nach seiner Ankunft in Mecklenburg verhungert, weil er mit dem Pfeil im Hals keine Frösche fangen konnte. Der Pfeilstorch war der erste "Experimentalbeweis", dass Störche im Winter nach Afrika fliegen, er wurde ausgestopft und in der Universität Rostock ausgestellt, wo er noch heute zu sehen ist.
Mehrere Jahre haben Vieser und Wettach beruflich in Japan gelebt. Die Distanz hat ihren Blick für das eigene Herkunftsland geschärft. Sie fassten den Entschluss, zurückzukehren und das, was ihnen vertraut erschien, neu zu erkunden. "Uns ist aufgefallen, dass wir Deutschland gar nicht richtig kennen und wenig über die Menschen wissen", sagt Reto Wettach, "dabei sind das Land und seine Bewohner exotisch, skurril und unheimlich inspirierend."
Vor allem aber scheint Deutschland in ihrem "Roadbook" ein Land der kreativen Lügner zu sein. Mangels besonders ausgefallener touristischer Attraktionen wird gern mal etwas erfunden, um Neugierige und Schaulustige anzulocken. Und so haben sich Michaela Vieser und Reto Wettach auch im Lügenmuseum in Kyritz viele Raritäten angesehen und angehört, das abgeschnittene Ohr von Vincent van Gogh zum Beispiel, Tonbandmitschnitte der untergehenden Titanic und das Geburtszimmer von Willy Brandt.
In Bodenwerder an der Weser haben sie das Grottenhäuschen des Lügenbarons Hieronymus von Münchhausen besichtigt und im fränkischen Diebach-Oestheim einen unscheinbaren Tümpel, der von den Einwohnern des direkten Zugangs nach Amerika wegen als "Bodenloses Loch" bezeichnet wird. Vor ihrer Reise hätten sie wohl auch nicht für möglich gehalten, dass der Mittelpunkt der Erde in einer sächsischen Kleinstadt namens Pausa liegt. Aber dann wurden sie eines Besseren belehrt. Im Rathaus von Pausa ragt nämlich ein Stück Erdachse aus dem Kellerboden, und das glänzende, sich ständig drehende Metallrohr muss regelmäßig von Mitgliedern der Erdachsenscharnierschmiernippelkommission mit Likör eingerieben werden - damit die Welt nicht still steht.
In "Übersehene Sehenswürdigkeiten" werden auch viele echte Rätsel des Alltags geklärt, wie die Geschichte der 14 dorischen Säulen, die in Stuttgart neben einer Müllverbrennungsanlage stehen. Ursprünglich sollten sie die Ost-West-Achse im neuen nationalsozialistischen Berlin namens "Germania" schmücken, aber dann kam der Krieg, und so blieben die Säulen beim Hersteller in Schwaben. Manche Orte, wie der Obersalzberg in Berchtesgarden oder das Raketenversuchsgelände in Peenemünde, sind dagegen bekannt und keineswegs übersehene Sehenswürdigkeiten. Andere Orte, wie das Gruft von Franz Josef Strauß in der Klosterkirche Rott am Inn oder das Grab der Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe auf dem Dornhaldenfriedhof in Stuttgart, sind beliebig ausgewählt und wenig reizvoll.
Trotzdem ist "Übersehene Sehenswürdigkeiten" ein spannender und origineller Reiseführer, der Deutschland in einem anderen Licht zeigt: als romantische, magische und etwas seltsame Region, durch die - vor allem nachts - untote Ritter, achtbeinige Hasen und doppelköpfige Kälber geistern. Michaela Viesers und Reto Wettachs Spuren zu folgen lohnt sich schon deshalb, weil die Geschichten, die ihnen die Menschen vor Ort erzählt haben, oft interessanter sind als die Orte selbst - gerade dann, wenn sie nicht stimmen.
[ Quelle: SpiegelOnline ] - [ Das Buch bestellen (Kauf unterstützt Wettach.Org) ] - [ Zur Webseite Drifting Friends (english) ]
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